Erinnere Dich

Die Maisonne scheint, als du zum ersten Mal ohne Jacke und barfuss über das kitzelige Gras rennst. Nichts kann dich aufhalten, du sprudelst voller Energie und es gibt nur dich und diesen einen Moment. Alles stimmt, die Welt und du, ihr seid eine Einheit. Die Farben der Bäume, der Sonnenstrahlen im Gras, der Geruch dieser einen Blüte, die dich immer so an den ersten richtig warmen Frühlingstag erinnert, deren Namen du dir aber nie merken kannst. Eine Welle der Geborgenheit und unbändigen Freiheit breitet sich in deinem Körper aus, ein bisschen wie Zuhause angekommen sein. Da ist pure Freude in dir über diese Vollkommenheit des Augenblicks, auch wenn du es noch nicht in Worte fassen kannst weil du es auch gar nicht musst. Du spürst die Kohärenz, die Wahrhaftigkeit und das pure Glück des Seins. Du strahlst beim Anblick deines Hundes, der mit dir über die Wiese rennt. Auch er scheint zu strahlen, seine Augen glitzern und jeder Muskel wirkt auch in der Bewegung gelassen und entspannt. Ihr bewegt euch als Einheit durch Zeit und Raum, es ist kein Platz für Gedanken und unangenehme Gefühle. Es ist alles gut in diesem Moment, es ist alles richtig. Du bist sechs Jahre alt und du verschwendest keinen Gedanken daran, wer dir zusehen, etwas über dich denken oder welches Verhalten jetzt angemessen wäre. Du bist einfach. Ihr seid einfach. Dein Hund verspürt genauso wie du das tiefe Bedürfnis mit dir in Kontakt, in Beziehung zu sein und miteinander zu tanzen. In Dialog zu sein im gegenwärtigen Moment. Du agierst und reagierst tief aus deinem Inneren heraus und intuitiv so genau, dass alle Tore der Kommunikation und Möglichkeiten zu einer tiefen Beziehung offen sind. Es gibt keinen Zweifel und keine Unsicherheiten. Bei dir nicht und bei deinem Partner Tier nicht.

Es sind zwanzig Jahre vergangen, die Maisonne scheint in ihrer vollen Kraft und diese eine Blüte, von der du dir den Namen sowieso nie merken konntest, blüht. Du bist nicht mehr barfuss und du kannst die Blüte nicht mehr riechen. Du stehst in einer Gruppe Menschen, die sich über den viel zu warmen Maitag beschweren. Das Hundegebell und Geheul der angebundenen Tiere am Zaun nimmst du kaum wahr. Als nächstes bist du dran. Eine Runde über den Hundeplatz. Gehorsamkeitstraining. Hoffentlich sitzt alles und hoffentlich bellt er nicht gleich wieder, wenn draussen am Platz diese eine Hündin vorbei läuft. Hoffentlich ist heute die Fleischwurst interessanter als ein kurzes Leinengepöbel mit seinem Erzfeind. Du nimmst die Leine und gibst eure einstudierten Kommandos. Du bist angespannt aber es läuft einigermaßen ok. Er schaut dich an. Sogar so starr, dass er fast über seine eigenen Beine gestolpert wäre. Aber es fehlt etwas. Da ist kein Glitzern, keine Leichtigkeit und keine Freude. Vielleicht würde er nicht einmal bei dir bleiben, sobald die Leine ab ist. Du spürst einen Kloß in deinem Hals. Herzlich Willkommen zurück im Fühlen.

Vielleicht stehst du auch mit Stahlkappenschuhen auf einem staubigen Reitplatz und lässt dein Pferd Kreise um dich rennen, damit es endlich seinen Rücken loslassen und an den richtigen Stellen Muskeln aufbauen kann. Vielleicht stehst du noch nicht im richtigen Winkel oder benutzt nicht die richtigen Hilfsmittel. Vielleicht hast du nur noch nicht die richtige Energie wie der charismatische Trainer am vergangenen Wochenende.

Vielleicht bist du aber auch nur nicht in Kontakt mit deinem Gegenüber, vielleicht schwingt ihr gerade nicht auf derselben Frequenz, vielleicht hörst du nur gerade nicht genau zu, weil die Stimmen von Außen zu laut sind. Vielleicht.

Wir lernen Techniken, Verhalten und Regeln. Was wir verlernen ist hinzusehen, zu fühlen und zu sein. Wir lernen, was man tun muss, damit unser Gegenüber sich „richtig“ verhält. Das ist KEINE Beziehung, das ist KEIN Dialog, das ist ein Monolog. Keine, wirklich keine ernsthafte, wahrhaftige Beziehung ist durch Druck, durch Erpressung, durch Kontrolle und Dressur möglich. Dabei sind wir voll von Beziehungssehnsüchten und stehen uns selbst so sehr im Weg.

Was können wir tun?

Das Einzige- das wahrhaftig Einzige- das wir tun müssen, ist uns zu erinnern. Erinnern an unser so friedvolles und reines Selbst. Wie soll das denn gehen, fragst du dich. Wenn das so einfach wäre. Ja, es ist so einfach. Denn es ist bereits da. Es wurde nur sehr lange nicht angehört. Setze dich zu deinem Tier und schaue hin. Schaue hin, was es dir signalisiert, was es dir spiegelt und wie es sich für dich anfühlt. Wie schaut es dich an, wie interagiert es? Was tut es, wenn du ihm erlaubst, sich so auszudrücken, wie es ist? Vielleicht wirst du überrascht sein, vielleicht auch ein wenig berührt. In jedem Fall aber ist es ein erster Schritt zu einer ernsthaften Beziehungsaufnahme. Zuhören, hinsehen und still werden. Etwas, was in diesen Zeit ganz gut gelingen kann.

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